UNSERE KIRCHE, 14. JULI 2002

EINE OASE INMITTELN VON ELEND UND TERROR

von Annette Munkelt

DORTMUND/KATHMANDU – Marianne Grosspietsch und die Shanti Leprahilfe – zwei Namen, die seit zehn Jahren untrennbar miteinander verbunden sind: Der unermüdliche Kampf gegen das Elend in Nepal ist das Lebenswerk der 58 jährigen Dortmunderin. Am Sonntag, 14. Juli, feiert der Verein Shanti Leprahilfe Dortmund sein zehnjähriges Bestehen ab 11.30 Uhr mit einem Gottesdienst und Fest in der evangelischen Reinoldi Kirchengemeinde.

Was Marianne Grosspietsch zwischen 1992 und heute erreicht hat, grenzt an ein Wunder, ist aber das Resultat von harter Arbeit und grenzenlosem Optimismus. Fast 800 wegen Lepra, anderer Krankheiten und Behinderungen verstoßene Nepalesen leben und arbeiten inzwischen in dem von ihr gegründeten Dorf Shanti Sewa Griha (wörtlich: Friedensdienst Heim) in Nepals Hauptstadt Kathmandu – eine Einrichtung, die für viele der Bewohner die letzte Rettung war. Kürzlich fanden Grosspietschs Mitarbeiter eine frisch beinamputierte Frau halbtot im Wald liegend. Sie hatte zwar Geld für die Amputation, nicht aber für die anschließende Versorgung im staatlichen Krankenhaus. Also wurde sie nach der Operation kurzerhand in den Wald geworfen.

Von einem »dicken Fell« kann keine Rede sein
Vorfälle wie dieser geschehen tagtäglich in Nepal, und doch erschüttern sie Marianne Grosspietsch jedesmal wieder zutiefst. Von einem »dicken Fell« kann keine Rede sein. Wer sie kennen lernt, merkt schnell, dass Shanti ihr Ein und Alles ist. Immer wieder erzählt sie Anekdoten aus dem Alltag in dem fernen Land, von fast jedem Patienten kennt sie die Leidens und Heilungsgeschichte. »Für die Patienten bin ich wie eine Mutter«, berichtet sie. Daran, wie mitleids- und liebevoll sie über ihre Schützlinge spricht, wird deutlich: Sie liebt diese Menschen.

Über eine Patenschaft zu ihrem späteren Adoptivsohn kam sie in Kontakt mit Nepal. Nach einem Aufenthalt 1987 ließ sie das erlebte Elend nicht mehr los. 1992 gründete Marianne Grosspietsch aus Eigenmitteln und Spenden eine Station für Leprakranke und gründete in Deutschland den Verein Shanti Leprahilfe Dortmund.

Die Selbstverständlichkeit christlicher Nächstenliebe ist es, die die frühere Theologiestudentin angesichts des wachsenden Elends nicht aufgeben lässt. »Nepal ist ein bettelarmes Land und Kathmandu ein Moloch«, sagt sie über die Hauptstadt, in die jeden [Monat] bis zu 8000 Menschen vor den Guerillakämpfern fliehen, die im ganzen Land vergewaltigen und morden. »Das Ausmaß des Hungers ist unfassbar schlimm.«

Katastrophale hygienische Zustände herrschen überall. »Die Menschen verrecken an Kleinigkeiten in der Gosse, das können wir uns in Deutschland gar nicht vorstellen«, sagt sie. Lepra ist in Nepal weit verbreitet, eine typische Krankheit armer Menschen, da der Bazillus das durch Hunger geschwächte Immunsystem problemlos angreifen kann. Der Ausbruch der Krankheit wird im Hinduismus als Strafe der Götter verstanden. Leprakranke werden deshalb aus ihrer Gemeinschaft verstoßen, oft mit Stöcken und Steinen hinausgeprügelt und vegetieren in Baracken in unermesslichem Elend vor sich hin.

Hilfe mit Medikamenten und menschlicher Zuwendung
Dabei ist Lepra mit Antibiotika heilbar. Täglich suchen bis zu 100 Nepalesen die Ambulanz der Shanti Station in Kathmandu auf, »mit allen Infektionen, die man sich nur vorstellen kann.« Zwei nepalesische Ärzte, ein Zahnarzt und weitere 20 Helfer sind für die Patienten zuständig. Mit ausreichender medizinischer Versorgung – die Medikamente liefert der Verein action medeor – und viel menschlicher Zuwendung werden die Patienten wieder aufgepäppelt und finden in der Shanti Gemeinschaft ein neues Zuhause.

Berührungsängste kennt Marianne Grosspietsch nicht, sie nimmt jeden Patienten in die Arme. »Die seelischen Wunden heilen nämlich am schwersten.« Erst kürzlich kam sie mit einer schweren Blutvergiftung aus Nepal zurück. »Ach«, sagt sie, »dafür gibt es doch hier Medikamente.«

Marianne Grosspietschs Ziel ist es, für jeden Patienten eine bezahlte Beschäftigung zu finden, die er nach seinen Möglichkeiten erledigen kann. Selbst für das gelegentliche Abzupfen der Blätter von getrockneten Kräutern bekommt eine alte Frau ihren Lohn. »Ich möchte die Menschen nicht zu Almosenempfängern degradieren, sondern ihre Lebensfreude und Kreativität wecken«, erläutert die engagierte, fröhliche Frau. »Denn ein Mensch ist nur heil, wenn er eine Zukunft hat.«

Kunsthandwerk, keine Mitleidsprodukt
Zwölf große Werkstätten gibt es inzwischen im Shanti Dorf, in denen die Bewohner arbeiten können. »Wir machen keine billigen Mitleidsprodukte, sondern stellen Kunsthandwerk von höchster Qualität her«, betont die Vereinsvorsitzende. Neben Perlenstickerei, Weberei und Schneiderwerkstatt gibt es eine Silberschmiede, eine Bauschreinerei und Papierdruckerei. Kindergarten, Schule, ein Krankenhaus mit Hospizstation und ein Kindergenesungsheim für schwache sowie 18 schwerbehinderte Kinder sind im Laufe der Jahre dazugekommen. Die Produkte werden vor Ort an Touristen und im Dortmunder Eine Welt Laden Ganesh verkauft.

»Das hat sich alles so entwickelt, das konnte ich zu Beginn überhaupt nicht absehen«, staunt Marianne Grosspietsch heute noch über die Ausmaße, die ihr Projekt angenommen hat. Ein zweites Krankenhaus soll in Kürze gebaut werden. Zehn Kilometer außerhalb von Kathmandu liegt eine Außenstation, wo 250 Menschen auf einer Obstbaumplantage leben und arbeiten. Ein Riesenerlebnis war der Umzug der Station vor einigen Wochen in ein leer stehendes Hotel – »ich wundere mich immer noch, dass wir das geschafft haben mit all den Kranken und Bettlägerigen«, sagt die dreifache Mutter.

Die Verkehrssprache Nepali beherrscht Marianne Grosspietsch mittlerweile recht gut. Alle sechs Wochen nimmt sie die lange Reise nach Nepal auf sich, bleibt 14 Tage oder länger. Insgesamt darf sie mit ihrem Visum fünf Monate im Jahr dort verbringen. »Glücklicherweise hat sie kein Dauervisum – dann würde sie nämlich gar nicht mehr nach Hause kommen«, sagt halb lachend, halb ernst die zweite Vorsitzende des Vereins, Christa Schaaf

Sie ist es auch, die während des Gesprächs immer wieder versucht, das manchmal bis zur Erschöpfung gehende Engagement von Marianne Grosspietsch in Worte zu kleiden. Über sich selbst und ihren außergewöhnlichen Einsatz mag die nämlich nicht sprechen, bescheiden winkt sie ab, als Christa Schaaf sagt: »Sie hat die Fähigkeit, aus Zitronen Limonade zu machen. Ihre Phantasie ist unerschöpflich. Und sie gibt den Menschen ihre Würde zurück.«

Immer wieder erwarten Marianne Grosspietsch und ihre 33 jährige Tochter Dori unangenehme Überraschungen und Rückschläge in Nepal. »Es ist ein ständiger Kampf gegen Windmühlen, aber für mich ist das Glas nie halb leer, sondern immer halb voll«, beschreibt sie ihre Motivation. »Und es ist ein Wunder, zu sehen, wie schwerbehinderte Menschen Tolles leisten können.« Und dann erzählt sie noch mit leuchtenden Augen von der jungen Frau mit dem grausam entstellten, völlig deformierten Kopf, vor der die Menschen in der Stadt schreiend weglaufen, wie sie an einem Festabend im Shanti Dorf lachend tanzt und sagt: »Ich bin so glücklich.«