ZEITZEICHEN, 4/2002

ANSTIFTUNG ZUR LEBENSFREUDE

Marianne Großpietsch gibt in einer Leprastation in Nepal Ausgestoßenen eine Zuflucht

von Helmut Kremers

Vor zehn Jahren gründete Marianne Grosspietsch die »Leprahilfe Dortmund e.V.«, die mit dem gleichzeitig entstandenen Verein »Shanti Sewa Griha« in Nepal zusammenarbeitet. Heute ist die Leprahilfestation im fernen Himalajastaat Nepal zu einer ansehnlichen Hilfseinrichtung geworden – immer auf der Suche nach Spenden, angenommen von den Menschen, die nichts dringender brauchen als Helfer, die ihnen ihre Würde zurückgeben.

Vor Jahren kündigte die Weltgesundheitsbehörde das endgültige Verschwinden der Lepra für das Jahr 2000 an. Eine der ältesten Geißeln der Menschheit sollte endgültig der Vergangenheit angehören.

Vom medizinischen Standpunkt aus gesehen hatte man Grund für solchen Optimismus: Die Bekämpfung der Krankheit gibt heute keinerlei Rätsel mehr auf. Lepra ist eine bakterielle Infektion, die mit speziellen Antibiotika leicht gestoppt werden kann. Die Behandlung ist weder besonders kompliziert noch besonders teuer – Letzteres, wenn man westliche Maßstäbe anlegt.

Dies hatte ich im Kopf, als mich Marianne Grosspietsch anrief und mir von einer Leprahilfestation in Nepal erzählte. Zunächst dachte ich an ein primitives aber sauberes Krankenhaus, eine Art Lambarene im Himalaja. Daß der Kampf gegen die Lepra nicht pünktlich zum »Millenniumswechsel« siegreich beendet wurde, davon hatte ich gehört. Also heilt man die Kranken, so dachte ich, mit der Unterstützung von Hilfsorganisationen aus aller Welt und entläßt sie in ihre Heimatorte.

Doch schon am Telefon wurde mir klar, daß die Sache komplizierter liegt. Marianne Grosspietsch sprach nicht einfach von einem Krankenhaus, in dem therapiert wird, sondern von einer privaten Einrichtung, die Kliniken, sechs Reha-Werkstätten, Kindergärten und noch einiges mehr umfasst. Denn in Nepal bedürfen nicht nur an Lepra Erkrankte der Hilfe, sondern auch die Geheilten, die lebenslang von der Krankheit gezeichnet bleiben – von kaum sichtbaren Körperschäden bis hin zu beträchtlichen Verstümmelungen der Hände und der Füße.

Marianne Grosspietsch hielt sich gerade in Deutschland auf, um für ihren Verein, der auf Spenden angewiesen ist, zu werben. Wir vereinbarten ein Treffen in Dortmund, wo sie für die Dauer ihres Aufenthalts bei ihrer Freundin, der Pastorin Christa Schaaf, wohnte. Auch Christa Schaaf engagiert sich bei der Leprahilfe – sie ist eine von den Menschen in Deutschland, die die europäische Logistik besorgen, denn ohne Unterstützung aus Deutschland könnte die Hilfseinrichtung nicht bestehen.

Ein bisschen Glück
In Dortmund begann unser Gespräch mit einem Essen. Sie liebe es, für ihre Gäste zu kochen, sagte sie. Und sie versteht etwas davon, dachte ich. Dann begann sie, zu erzählen – farbig, lebendig, mit Überschwang. Frau Schaaf steuerte zwischendurch ein paar nüchterne Informationen bei oder hob den Einsatz ihrer Freundin ins rechte Licht, wenn die das ihre zu sehr unter den Scheffel rückte.

Marianne Grosspietsch gehört nicht zu den Menschen, die ihre selbst gewählte Aufgabe mit ständigen Sorgenfalten auf der Stirn angehen: Sie lacht gern, sie steckt mit ihrer Fröhlichkeit und ihrem Optimismus an.

Was sie erzählt, illustriert sie mit Photos und Tagebuchnotizen. Und sie hat viel zu erzählen. Besonders gern spricht sie von den Kindern – wie sie in der Station aufleben, die Geborgenheit genießen. Aber wir stoßen auch auf das Photo einer jungen Frau, die, als sie die Station gebracht wurde, schon schwach war, daß wenig Hoffnung bestand, sie durchzubringen. Frau Grosspietsch zeigt das Bild der abgemagert Frau in weißen Kissen, erzählt von ihr mit so viel herzlicher Wärme, daß man unwillkürlich ein Happy-End erwart Doch das bleibt aus: Die junge Frau starb nach wenigen Wochen. Eins wird bald klar: Die Helfer in der Leprahilfestation können Leid lindern und, wenn es gut geht, für ein bisschen Glück sorgen – Happy-Ends stehen nicht in ihrer Macht.

Aber der Reihe nach: Marianne Grosspietsch, heute 58 Jahre alt, gründete 1992 die »Shanti Leprahilfe Dortmund e. V.«, parallel dazu entstand in Kathmandu der Partnerverein »Shanti Sewa Griha« (der Name bedeutet schlicht Frieden- Dienst- Heim). Mit nur 15.000 Mark begann man eine Ambulanz zu errichten, gleich in der Nähe des großen Tempelbezirks Pashupatinath am Rande Kathmandus. Nur wenige Monate später begann man mit Hilfe von Lions International und des Bundesministeriums wirtschaftliche Zusammenarbeit mit dem Bau einer zweiten Station am Nordhang des Kathmandu-Tales, in Budhanilkantha.

Heute werden von dem Verein etwa 800 Menschen betreut – davon »nur« etwa 380 ehemals Leprakranke. Zu den beiden Zentren zählen zwölf verschiedene Werkstätten, eine Klinik, eine Kinderklinik, eine Sterbeklinik, eine Armenambulanz, eine Obstplantage. Längst konzentriert man sich nicht mehr ausschließlich auf die Leprapatienten, denn in Nepal gibt es eine Menge anderer Gesundheitsprobleme: Sehr viele Menschen etwa erblinden schlicht wegen Vitamin-A-Mangels. Die Tuberkulose grassiert. Die Armut im Lande ist für den Europäer schwer vorstellbar; Nepal gehört zu den ärmsten Ländern dieser Erde.

Die Frage liegt nahe, warum ausgeheilte Leprapatienten in einer solchen Einrichtung leben und arbeiten sollen. »Wäre es nicht besser, sie in ihre Dörfer zurück zu schicken?« So wird Frau Grosspietsch manchmal gefragt. Doch die Frage zeugt von Ahnungslosigkeit. Wer in Nepal an Lepra erkrankt, fällt ganz tief: Er ist ein Ausgestoßener. Der Unterschied zwischen noch infizierten und somit ansteckenden Menschen und den ausgeheilten, die die Spuren der Krankheit noch als Stigmata an sich tragen, ist nicht zu vermitteln. Frau Grosspietsch erzählt, was mit denen passiert, die es wagen, in ihre Heimatorte zurück zu kehren: Sie werden brutal aus dem Dorf geprügelt, schwere Verletzungen sind nicht selten. Ich betrachte das Foto einer Frau, der man die Nase eingeschlagen hat; ihr Gesicht wird nur durch eine kosmetische Operation wieder einigermaßen hergestellt werden können.

Nepal ist ein hinduistisches Land. Das bedeutet, daß es vom Kastenwesen beherrscht wird. Doch die Lepra macht alle gleich, ob Brahmane oder Paria: Wer Lepra hat, ist aussätzig. Dabei ist es keineswegs so, daß die Erkrankten bei den ersten Symptomen nichts Eiligeres zu tun hätten, als in einem Krankenhaus um Hilfe zu bitten: Nein, viele der Menschen in ihren zivilisationsfernen Hochtälern neigen dazu, die Symptome so gut es geht zu verdrängen und zu verbergen. Daran liegt es, daß viele noch so schwere Verwüstungen durch die grausame Krankheit aufweisen.

Ich schaue die Alben an: viele Bilder von glücklich lachenden Menschen. Wenn Verstümmelungen zu sehen sind, so eher zufällig. Marianne Grosspietsch stellt das Leiden ihrer Schützlinge nicht aus. Ich betrachte das Foto eines Mannes, der mit Holzmodeln Tücher bedruckt – damit er überhaupt damit umgehen konnte, mußte man die Druckmodel mit großen Schlaufen versehen. Ein kleiner Trick – aber unendlich wirksam. Unter den Fotos sind auch erschütternde: Etwa eine Frau, deren Kopf in unglaublicher Weise durch einen Tumor angeschwollen ist. Vielleicht wäre ihr durch eine Operation zu helfen – aber zunächst muß ein Arzt gefunden werden, der sie durchführen kann.

Wir kommen auf die Politik zu sprechen. Nepal ist eine Monarchie. In Sachen Politik hat die Welt seit Menschengedenken wenig von diesem Land gehört – auf den ersten Blick bediente und bedient Nepal die westliche Sehnsucht oder Gier nach exotischen Welten, in der auch das Unglück malerisches Dekorum bleibt.

Aber in letzter Zeit ist auch der Himalajastaat in die Schlagzeilen gerückt: Eine »Befreiungsorganisation«, die sich marxistisch-maoistisch nennt und ihr Vorbild im peruanischen »Leuchtenden Pfad«, einstmals eine der grausamsten Terrororganisationen der Geschichte, sieht. In Kathmandu ist der Terror inzwischen bis an den Königspalast vorgerückt, vor dem schon einmal eine Wache erschossen wird. Der Umgang von Seiten der Regierung mit solchen Anschlägen ist vorerst noch etwas naiv – die nächste Wache zieht auf und steht, tapferer Zinnsoldat, als lebende Schießscheibe vor dem Palast.

Hinzu kommen die Turbulenzen in der königlichen Familie, die vor Monaten selbst deutsche Nachrichten erreichten: Der König und mit ihm ein Teil der königlichen Familie fielen einem Anschlag zum Opfer. Offiziell soll der Mörder der Kronprinz gewesen sein, der bei dem Anschlag ums Leben kam. Doch wollen die Gerüchte nicht verstummen, daß der wahre Attentäter, ein Neffe des Königs, noch lebt und nun selbst zum Kronprinzen aufgerückt ist. Die Königsfamilie entstammt dem Stamme der Gurkha. Einstmals bestand die berüchtigte »Fremdenlegion« des britischen Empires aus Gurkhas, noch im britisch-argentinischen Krieg um die Falklandinseln vor zwanzig Jahren spielten sie eine Rolle. Doch leben in Nepal noch sehr viel mehr Stämme, es werden mindestens achtzehn verschiedene Sprachen gezählt, die Gurkhasprache ist die Staatssprache.

Marianne Grosspietsch kommt zurück auf das Leben in ihrer Station. Sie berichtet von einem Mann namens Joghendra, der einst ein mürrischer Kellner in dem von der Leprahilfe betriebenen Café war. Von seiner ausgeheilten Lepra hatte er nur kleinere Verstümmelungen zurückbehalten. Doch wenn Gäste die Spuren der Krankheit entdeckten, verließen sie fluchtartig das Lokal. Eines Tages erfuhr Frau Grosspietsch, daß die Menschen in dem südnepalesischen Dorf, aus dem Joghendra stammte, ihre Häuser mit wunderschönen Malereien verzierten. Sie fragte ihn, ob er dies auch könne? »Schon am Abend rankte sich eine grüne Girlande mit Chilischoten um die Tür einer unserer Hauswände. Joghendra strahlte und freute sich über das Lob seiner Mitpatienten.« Seitdem malt er mit Begeisterung, bemalt Wände und Wandbehänge und bringt auch andere Südnepalesen dazu, die Kunst ihrer Heimat in der Station auszuüben, so daß selbst die Touristen auf die prächtig herausstaffierten Gebäude aufmerksam werden.

Binnen kurzem wird es damit aus sein. Das Zentrum in Pashupatinath muß geräumt werden: Der World Heritage Fund will den Tempelbezirk nur dann als Kulturdenkmal fördern, wenn alle anderen Gebäude verschwinden. Nun steht man in Verhandlung um ein altes Hotel; bis auch dieses wieder Touristenblicke auf sich zieht, wird noch einige Zeit vergehen. Doch auch da werden sich die Menschen auf die Arbeit stürzen, denn eins haben sie bei Frau Grosspietsch verlernt: sich resigniert mit ihrer Situation abzufinden.

Wenn sie Menschen zu Aktivitäten anregen kann, ist Marianne Grosspietsch glücklich. Und besonders wichtig ist es für sie, daß die Menschen mit Schönem umgehen und schöne Dinge schaffen. Sie kennt keinen Puritanismus des Helfens – nie und nimmer käme es ihr in den Sinn, die Menschen etwa mit Tütenkleben oder Ähnlichem einen Teil ihres Lebensunterhalt verdienen zu lassen.

Sie ist davon überzeugt, daß der Umgang mit schönen Dingen die Seelen aufhellt, Lebensfreude bringt. Ihre Phantasie ist da unerschöpflich: Kostümfeste für die Kinder und Modenschauen für die Frauen zur Unterhaltung. Und hergestellt werden in großer Kunstfertigkeit Kleider und bestickte Taschen, bedruckte Tücher, bemalte Sitzkissen und vieles mehr.

Eines ist mir bei meinem Besuch klar geworden: Marianne Grosspietsch`s große Fähigkeit besteht in der Anstiftung zur Lebensfreude. Sie muß nicht nach dem Sinn des Lebens suchen, sie erfährt ihn durch ihr Tun – und bestätigt damit den lakonischen Erich-Kästner-Spruch: »Es gibt nichts Gutes, außer man tut es.« Sie tut es. Sie hat eine 33-jährige Tochter, die gerade dabei ist, in die Fußstapfen ihrer Mutter zu treten. Die ist im Übrigen die einzige Europäerin neben dreißig einheimischen Helfern in der Leprastation in Nepal. Und darauf, daß das ganze Unternehmen Hilfe zur Selbsthilfe darstellt, ist Marianne Grosspietsch stolz.

Die Shanti Leprahilfe Dortmund e. V., Olpketalstr. 63, 44229 Dortmund, finanziert sich ausschließlich aus Spenden.

Benötigt werden zur Zeit monatlich etwa 30 000 Euro.Spendenkonto: Deutsche Bank Dortmund,Konto 1 77 77 13, BLZ 440 700 24