WESTDEUTSCHE ALLGEMEINE ZEITUNG, 3. JULI 2004

ZWISCHEN PRINZIP HOFFNUNG UND PRINZIP ANGST

1989 gründete Marianne Großpietsch eine Leprastation in Nepal – heute sitzt sie an der »Tafel der Demokratie«

Berlin, Brandenburger Tor. Pilgerstätte Hunderttausender. Aber wer hat schon eine Einladung des Bundespräsidenten im Gepäck. Wie Marianne Großpietsch, die heute im Schatten des berühmtesten deutschen Denkmals mit dabei ist, wenn Horst Köhler ausgewählte Gäste zur »Tafel der Demokratie« bittet. Die Dortmunderin gehört zu den 15 Lesern der WAZ, die mit anderen als besonders verdienstvolle Bürger am Gala-Diner vor dem Brandenburger Tor teilzunehmen.

Die Einladung erreichte sie in Kathmandu und war wie eine Botschaft wie von einem anderen Stern. In Nepal, wo Marianne Großpietsch 1989 eine Leprastation gegründet hat, in der mittlerweile 1100 Menschen leben, diktiert der Terror der Maoisten den Alltag. So war der Rückflug von Kathmandu nach Dortmund am vergangenen Wochenende eine Rückkehr in eine heile Welt: »In Deutschland gibt es das Prinzip Hoffnung – in Nepal nur das Prinzip Angst. Ich freue mich auf Berlin, auf eine Stadt im Aufbau.«

Aufbau für die Ärmsten der Armen in Nepal – das Lebenswerk der nun 60-Jährigen. Das Fundament dazu wurde gelegt, als sie in den 70er Jahren in Nepal den Jungen namens Puskal besuchte, für den sie seit Jahren über ein Schweizer Hilfswerk gespendet hatte. Den sie später nach Dortmund holte und adoptierte. Puskals Eltern lebten im Lepra-Ghetto in Kathmandu. Und die Bilder der Kranken und Ausgestoßenen ließen Marianne Großpietsch nicht mehr los.

Ohne jede öffentliche Unterstützung rief sie die Shanti Lepra-Hilfe ins Leben. Heute ist die Station in der Metropole des Königreichs am Himalaya eine kleine Stadt in der Stadt. Mit Klinik, Hospiz und Armenambulanz. Mit Kinderkrippe, Kindergarten und Schule, Werkstätten und ökologischer Landwirtschaft für die Selbstversorgung. 1000 Mahlzeiten verlassen täglich die Küche. Immer noch sind private Spenden die einzigen Säulen, auf denen die Station ruht.

Und längst ist Shanti eine Fluchtburg für Menschen ohne Hoffnung geworden, nicht nur für Lepra-Patienten. Eine Frage der Humanität, meint Marianne Großpietsch. »Ich kann doch keinen wegschicken, weil er die falsche Krankheit hat.«

 

WESTDEUTSCHE ALLGEMEINE ZEITUNG, 5. JULI 2004

HANDGEMACHTER SCHAL AUS NEPAL FÜR FIRST LADY

1500 Menschen saßen an der »Tafel der Demokratie«. Bundespräsident Horst Köhler hatte zu einem Gala-Diner vor dem Brandenburger Tor geladen. Unter den Gästen: die Dortmunderin Marianne Großpietsch. Sie überreichte Horst Köhler eine Baumurkunde. »Ich habe ihm gewünscht, über stets nachwachsende Kräfte zu verfügen.« Diese Geste, gedacht als ein Dankeschön für die Einladung, verrät viel über die Arbeit, die Marianne Großpietsch in Nepal verrichtet. Wegen dieser Arbeit wurde sie mit 14 weiteren WAZ-Lesern als besonders verdienstvolle Bürgerin zur Gala geladen.

1989 gründete Marianne Großpietsch in Nepal eine Leprastation. Sie baute eine Klinik auf, ein Hospiz, Kindergärten, eine Schule und Werkstätten. »Und ich habe ein Baumprojekt ins Leben gerufen. An einer Landstraße haben wir 53 Obstbäume gepflanzt. Jeder Baum trägt ein wenig dazu bei, den Hunger in diesem Land zu bekämpfen.« Eva Köhler schenkte sie einen von den nepalesischen Patienten handgearbeiteten Schal. »Damit wollte ich zum Ausdruck bringen, dass Eva Köhler für mich nicht nur die Frau des Bundespräsidenten ist. Sie wird durch die neuen Aufgaben ebenfalls gefordert.«

Die Begegnung mit Horst Köhler hat einen bleibenden Eindruck hinterlassen. »Dass dieser Mann all den Erwartungen gelassen standgehalten hat, das war imponierend.« Wie er sich zu dem kleinen Mädchen hinunterbückte, das schüchtern mit einem Blumenstrauß vor ihm stand, wie er die Hand reichte und anbot, es zu seiner Mama zu bringen – diesen Moment wird Marianne Großpietsch mitnehmen, wenn sie am 9. August zurück nach Nepal reist.