UNSERE KIRCHE, 27. AUGUST 2006

"TOR DER HOFFNUNG" FÜR DIE ÄRMSTEN

von Anne-Kathrin Koppetsch

Die Dortmunderin Marianne Grosspietsch hat in Nepal die »Shanti Leprahilfe« aufgebaut. Seit vielen Jahren setzt sie sich für Arme und Kranke ein. Für ihr Engagement hat die 62-Jährige das Bundesverdienstkreuz verliehen bekommen.

Hätte Marianne Grosspietsch damals – im Jahr 1973 – nicht Puskal aus Nepal nach Deutschland geholt, gäbe es heute die Shanti Leprahilfe vermutlich nicht. Puskal war das nepalesische Patenkind der Familie Grosspietsch und stammte aus dem »Lepra-Ghetto«. Dort sammeln sich Menschen, die krank und nicht mehr gesellschaftsfähig sind. Menschen mit »Aussatz«. Puskal konnte dank finanzieller Unterstützung aus Deutschland das Ghetto verlassen und eines der besten Internate Nepals besuchen. Doch, so erklärte der Internatsdirektor, die Eltern der anderen Kinder machten ihm Schwierigkeiten. Denn sie wollten nicht, dass ihre Söhne und Töchter mit einem aus dem Ghetto zur Schule gingen. Mit einem Verfluchten. Einem »Kastenlosen«.
Familie Grosspietsch nahm den Jungen mit nach Deutschland und gesellte ihn den eigenen beiden Kindern zu. Puskal mit nach Deutschland zu nehmen war eine unproblematische Angelegenheit. Denn Marianne Grosspietsch und ihr Mann kannten jemanden, der wiederum die Schwester des Königs kannte, und die unterschrieb den Ausreiseantrag. 1986 kehrte Marianne Grosspietsch dann nach Nepal zurück. Mit Puskal, der gerade Abitur gemacht hatte. Puskal traf seinen Vater wieder. Er lebte noch immer im Ghetto. Er war blind, stank erbärmlich, und hatte keine Hände und Füße mehr. Er erkannte seinen Sohn nicht wieder, und sein Sohn konnte mit ihm nichts anfangen. Wenige Tage später starb er.

Diese Bilder ließen Marianne Grosspietsch nicht mehr los. Sie brach ihr Judaistik- und Theologiestudium ab und suchte nach Möglichkeiten, um die elende Situation der Verstoßenen in Nepal zu verbessern. 1989 wurde die erste Leprastation gegründet. Drei Jahre später mietete Grosspietsch in Kathmandu ein Haus. Dort, wo die Bettler saßen – in der Nähe des Pashupatinath Tempels. Sie engagierte einen einheimischen Arzt. Die »Shanti-Leprahilfe« war geboren. »Ich habe mit 1000 Mark angefangen. Der erste Schritt war eine Modenschau im Dortmunder Reinoldinum, mit Kleidung aus Nepal«, sagt Marianne Grosspietsch. Als das Gebiet am Pashupatinath Tempel zum Weltkulturerbe erklärt wurde, zog sie weiter und mietete ein Hotel. Das neue Zentrum. Mittlerweile gehören zwei Dörfer mit zum Gelände. Es gibt Werkstätten, in denen Behinderte Textilien, Schmuck und Kunstgewerbe herstellen, einen Kindergarten, ein Krankenhaus und eine Ambulanz. Obst und Gemüse bauen die Bewohner der Leprahilfe selbst an, nach ökologischen Kriterien. Damit werden die vielen Menschen im Dorf ernährt.

Rund 1500 Menschen wohnen heute auf dem Gelände. Längst kommen nicht mehr nur Leprakranke. Sondern auch Behinderte, andere Kranke, Arme und Flüchtlinge. Marianne Grosspietsch weist keinen ab. Voraussetzung ist: »Sie dürfen nicht übermäßig saufen, nicht stehlen und keine Gewalt ausüben.« Wer kommt und bleiben will, muss bereit sein, sich in die Gemeinschaft einzubringen. »In einer Werkstatt mitarbeiten. Auf ein behindertes Kind aufpassen. Essen mit zubereiten.«

Manchmal bringt sie selbst neue Bewohner mit. Sklavenjungen, die in reichen Familien die Hausarbeit erledigen, für den Fall, dass die Hausfrau ihre Periode hat und damit unrein ist. Alte Menschen, die sterbend auf der Straße liegen. Wegwerfkinder, die von den Eltern wegen ihrer Behinderung verstoßen wurden. Besonders stolz ist sie darauf, dass viele der »Ghetto-Kinder« von damals in der Leprastation heute eine verantwortungsvolle Arbeit übernommen haben. Ein Kinderfreund von Puskal hat es zum »managing director«, eine Art Geschäftsführer, gebracht. Ein Mädchen aus dem Ghetto ist nun, als Erwachsene, Grosspietsch' Assistentin.

Marianne Grosspietsch pendelt zwischen Deutschland und Nepal. Etwa alle sechs Wochen fliegt sie nach Kathmandu, zur »Shanti-Leprahilfe«, auch »Tor der Hoffnung« genannt. »Mama kommt«, heißt es dann dort. »Ich muss gelegentlich nach dem Rechten sehen«, schmunzelt sie. »Sonst passiert es, dass auf dem Weihnachtspapier plötzlich Osterhasen erscheinen. Oder dass die Flügel der Engel wie ein Hubschrauber-Propeller auf dem Kopf angebracht werden.«

Welche Voraussetzungen muss ein Mensch erfüllen, um quasi aus dem Nichts, ohne Institution im Rücken, eine solche Einrichtung aufzubauen? »Sie hat ein geradezu computerhaftes Gedächtnis und kann alles miteinander verknüpfen, was sie jemals gelernt oder gelesen hat. Selbst Dinge aus der Abitur-Zeit«, beschreibt Pfarrerin Christa Schaaf die besonderen Fähigkeiten der 62-jährigen Marianne Grosspietsch. Mindestens genauso wichtig ist aber eine schier unerschöpfliche Menschenliebe: »Was ihr einem der Geringsten getan habt, das habt ihr mir getan«, sagt die engagierte Christin über ihre Motivation. Marianne Grosspietsch ist Mitglied der St. Reinoldi-Gemeinde in Dortmund. Der Begriff »Menschenwürde« taucht in ihrem Wortschatz kaum explizit auf, ist aber ständig präsent.

So einfach ist das. Und gleichzeitig so schwierig. Denn die »ShantiLeprahilfe« benötigt 25 000 Euro pro Monat. Eigentlich nicht viel, wenn man bedenkt, wie viele Menschen dort leben, ein Dach über dem Kopf, Arbeit und genug zu essen haben. Und trotzdem eine Menge Geld, das Monat für Monat aufgebracht werden muss. 10 000 Euro gehen per Dauerauftrag ein. Der Rest muss als Spende eingeworben werden. Monat für Monat.
Im vergangenen Jahr war Marianne Grosspietsch als eine von 1000 Frauen für den Friedensnobelpreis nominiert. In diesem Jahr hat sie das Bundesverdienstkreuz verliehen bekommen. Grosspietsch sieht das als willkommene Möglichkeit, das Shanti-Projekt einer noch größeren Öffentlichkeit vorzustellen. »Ich hoffe, dass sich Menschen angesprochen fühlen und diese Arbeit, die den Ärmsten der Armen hilft, unterstützen!«