A TEMPO, OKTOBER 2009

SHANTI HEISST FRIEDEN

Marianne Grosspietsch im Gespräch mit Doris Kleinau-Metzler

Im Juni 2007 feierte die »Shanti Leprahilfe« aus Dortmund ihren 15. Geburtstag. Das allein wäre ein Grund, mit den in diesem Zusammenhang tätigen Menschen zu feiern, denn ihre geleistete Hilfe ist bewundernswert. Bewundernswert ist auch ihre Gründerin Marianne Grosspietsch, die sich mit Herzenswärme und ansteckendem Optimismus um die Sorgen und die Würde der betroffenen Menschen bemüht.

Die Infektionskrankheit Lepra ist seit mehreren tausend Jahren bekannt und trotz wirksamer Medikamente immer noch in Asien, Afrika und Lateinamerika verbreitet, da sie eng mit Armut zusammenhängt. Mit den verheerenden Folgen, u. a. der Verkrüppelung und Ausgrenzung, wurde Marianne Grosspietsch erstmals konfrontiert, als sie vor über 30 Jahren mit ihrem Mann ihr Patenkind in der Hauptstadt Nepals, Kathmandu, besuchte. Aus den ersten Kontakten wurde eine Adoption, Jahre später entstand durch die persönliche Konfrontation mit dem menschlichen Elend der Eltern des Adoptivsohnes in einem Lepra-Ghetto ihr Wunsch, mehr zu helfen. Inzwischen konnte die Shanti-Leprahilfe Dortmund e.V. ihren 15. Geburtstag feiern. 1.500 Menschen finden an drei Projektorten in und um Kathmandu Hilfe und Heimat, betreut durch einheimische Helfer, deren Eltern oft noch im Lepra-Ghetto lebten. Krankenambulanz, Pflegestation für Schwerstbehinderte, Werkstätten für Behinderte und Arme, Wohnhütten, Schule und Kindergarten, Küche und nicht zuletzt Gartenbaubetriebe mit biologischem Obst- und Gemüseanbau sind aus einem Impuls entstanden, der Marianne Grosspietsch immer wieder für das Shanti-Projekt bewegt, »aus der Freude heraus, Leben in seiner ganzen Vielfalt wahrzunehmen und Gemeinschaft zu erleben«. Gemeinsam mit anderen wurde sie für 1000 Frauen für den Friedensnobelpreis 2005 vorgeschlagen.

Doris Kleinau-Metzler | Frau Grosspietsch, können Sie sich noch erinnern, wie alles anfing?

Marianne Grosspietsch | Der erste Anstoß hinter allem sind sicher meine eigenen Kinder – wir wollten sie tolerant erziehen und engagierten uns deshalb für unser Patenkind. Dann der Besuch mit unserem Patensohn nach seinem Abitur bei seinen Eltern im Lepra- Ghetto – sein Vater hatte Hände und Füße verloren, war infolge der nicht behandelten Krankheit erblindet und unsagbar traurig, dass er seinen erwachsenen Sohn nicht sehen konnte, den sie uns anvertraut hatten. Das ging mir so an die Seele … Ich hatte mit großer Freude einige Semester Theologie und Judaistik studiert, aber mir wurde deutlich: Wenn ich für mich authentisch sein wollte, konnte ich hier über den Satz Jesu: »Was ihr getan habt dem geringsten meiner Brüder, das habt ihr mir getan«, nicht hinweggehen.

DKM | Warum ist Lepra so schwer zu bekämpfen?

MG | Lepra ist eigentlich eine Nervenkrankheit, die inzwischen gut mit Antibiotika zu behandeln ist und dann auch nicht mehr ansteckend ist. Die Krankheit wird aber oft als Hautkrankheit angesehen, weil sich zunächst Flecken auf der Haut zeigen, oft Jahre nach der Ansteckung, und diese Stellen sind gefühllos, also schmerzlos. Dort dringt bei kleinsten Verletzungen Schmutz ein, Bakterien breiten sich aus, bis dahin, dass der Knochen zerstört wird. Weil die Muskeln kontrahieren, bilden sich Klauenhände, zwischen deren Fingern es feucht wird, Wunden entstehen und riechen, und dies zieht wiederum die Ratten an, mit grausamen Folgen für die Menschen. Deshalb ist es uns ganz wichtig, die Wunden sorgfältig zu versorgen, auch wenn es in unserer Einrichtung keine ansteckenden Lepra-Kranken mehr gibt. Aber viele Menschen dort sind gezeichnet für ihr Leben, sie verstehen es nicht und fragen: »Wo ist meine Nase, wenn ich geheilt bin? « Und es gibt sie ja auch noch, die Krankheit, zum Beispiel in den abgelegenen Dörfern. Das staatliche Gesundheitssystem funktioniert kaum, und wir kommen an diese Gegenden nicht heran.

DKM | Wie ist der Umgang mit dieser Krankheit und mit Behinderten in Nepal?

MG | Lepra-Kranke werden aus ihrem Dorf ausgestoßen, auch wenn sie geheilt wurden, weshalb viele so lange wie möglich ihren Zustand verleugnen, und Behinderung wird als Strafe der Götter angesehen. Bei uns gibt es inzwischen immer mehr schwerst behinderte Dauer-Pflegepatienten, die auch oft von ihren Müttern unter vielen Mühen zu uns getragen werden, nachdem sie jahrelang mehr oder weniger versteckt wurden – Querschnittsgelähmte, Kinder mit schwerer Trisomie, dem sogenannten Down-Syndrom, die nicht laufen können, viele Kinder auch mit Gaumen-Lippen-Spalten und Muskeldysthrophie, auch als Folge dessen, dass kein Wissen über Erbgesundheit besteht. Hinzu kommt ja in Nepal die Erfahrung, dass von zehn Kindern vielleicht nur fünf überleben und die das Alter der Eltern absichern sollen, denn die Menschen bekommen keine Rente oder sonstige Hilfe. Als ich mit einigen Mitschülern unser 40-jähriges Abitur feierte, war Rente und was man dann bekommt, ein großes Thema. Trotz der Versorgung macht man sich Sorgen über die Zukunft.

DKM | Wie erleben Sie das Leben und die Menschen in Nepal?

MG | Ich empfinde uns (sie lacht, weil sie sich mit dazuzählt) in Nepal als ausgeglichener, weil sich viele Menschen, denen ich dort begegne, an kleinen Dingen freuen können – immer wieder. Wenn unsere Näherinnen an einem blühenden Strauch vorbeigehen, stecken sie sich eine Blüte ins Haar, einfach so. Und viele drücken deutlich aus: »Heute habe ich einen warmen satten Bauch, wie schön! « Welche Freude ist es für unsere Kinder, wenn sie eine Karotte oder einen Apfel geschenkt bekommen. Die Frauen können ganz wunderbar mit ihren Babys umgehen, das lernt man einfach voneinander, weil immer irgendjemand im direkten Umkreis ein Baby hat: Sie massieren sie jeden Morgen mit Öl, und die Babys sind herrlich entspannt. Ich habe so immer wieder Spaß ohne Ende dort! –Aber es gibt auch die andere Seite in Nepal, die Armut, die Korruption, das mangelhafte Gesundheitssystem, die staatlichen Schulen, in denen eigentlich nur auswendig gelernt und wiederholt wird, und auch die Fälle von Misshandlungen, zum Beispiel, weil ein Mädchen in der Familie nicht erwünscht ist, und die ausgestoßenen Behinderten. Aber immer wieder bin ich dankbar für unser einheimisches Team, das die Landesbedingungen genau kennt und die laufenden Geschäfte hervorragend bewältigt.

DKM | Was ist Ihnen persönlich wichtig für die Arbeit von Shanti in Nepal?

MG | Mein Ziel ist zum einen, dass wir immer diese 1.500 Menschen satt bekommen, die bei uns leben und arbeiten – denn jeder, der kann, arbeitet, auch die Menschen mit den verkrüppelten Händen können zum Beispiel dank spezieller Vorrichtungen in der Papierwerkstatt Motive stempeln. Aber genauso wichtig ist mir, dass diese Menschen, wenn sie zu uns kommen, erst einmal die Seelenstimmung erleben können: Hier bin ich aufgenommen, so wie ich bin, bin zu Hause. Trotz aller Beengung, unter der manche Schwerstbehinderte leiden, kann doch jeder noch eine Erweiterung erleben, zum Beispiel durch Trommeln, Singen, Malen, kann geschaukelt und eingeölt werden – etwas, das ihr oft kurzes Leben lebenswert macht. Wichtig ist mir bei allem die Gestaltung, die Ästhetik, denn ich bin davon überzeugt, dass es viel Einfluss auf den Menschen hat, seine Seele daran wachsen kann, wenn es schön um ihn herum ist. So malen zum Beispiel auch alle Bewohner, die ehemals Leprakranken, ihre Hütten in der Tradition ihrer jeweiligen Heimat-Ethnien an. Wir mussten noch nie Reparaturen in unseren beiden Siedlungen veranlassen, weil die Menschen ihr Zuhause gut pflegen. Und in unseren Werkstätten werden wunderschöne Dinge hergestellt, Silberschmuck, Tücher, Teppiche, Spielzeug …

DKM | Shanti baut auch nach biologischen Methoden Obst und Gemüse an. Wie ist es dazu gekommen?

MG | Dafür war wohl der frische Blick von außen Anstoß, denn ich habe gesehen, wie auch in Nepal mit chemischem Dünger, der zum Teil durch die Weltbank finanziert wurde, umgegangen wurde – im Übermaß, auch weil sie die Gebrauchsanweisung nicht verstehen; zudem werden die Säcke oft offen transportiert, sodass die Insektizide und Pestizide sich im Lebensumfeld verteilen. Nachdem ich mit meinem Manager die nach biologisch-dynamischen Prinzipien arbeitende Sekem-Farm in der Wüste in Ägypten besucht hatte, war klar: Wir wollen es ähnlich machen. In Nepal gibt es zudem uraltes Wissen der nepalesischen Bauern, wie der Boden und die Natur gut zu behandeln ist, das nutzt unser alter Gärtner, der dieses Wissen weitergibt. Und so ging die Zahl der Schädlinge in der Obstplantage unseres ersten Grundstückes zurück, und wir können für unsere Küchen zur Versorgung der vielen Menschen immer mehr gesundes Obst und Gemüse ernten. Auch um die laufenden Kosten zu reduzieren, nutzen wir Solarenergie, konnten jetzt eine Biogasanlage bauen, die durch die Toiletten und den Dung unserer vier Kühe gespeist wird, und aus Pflanzenresten werden Biobriketts hergestellt für den Fall, dass das Biogas zum Kochen und für warmes Wasser nicht reicht. Acht Menschen haben so zudem eine bezahlte Arbeit.

DKM | Wie werden die Shanti-Einrichtungen in Nepal finanziert?

MG | Letztlich ist alles nur dank Spenden möglich. Für bestimmte Einrichtungen wie eine Krankenstation, Toiletten u. Ä. haben sich immer wieder Organisationen gefunden wie die Deutsche Botschaft, Rotarier und Lions-Verbände und auch Einzelspender. Ein großer überraschender Glücksfall war, dass wir 500.000 Euro durch den Entertainer Hape Kerkeling erhalten haben, weil er für uns beim TV Prominentenraten von Wer wird Millionär gewonnen hat. Von dem Geld konnten wir einen Schulbus kaufen und vor allem ein Stück Land, auf dem eine Klinik, Werkstätten, ein Kindergarten und eine große Küche entstehen. Dort haben wir auch eine Wasserader gefunden und einen Brunnen bauen können, aus dem sich die Bewohner des angrenzenden Slums unentgeltlich versorgen können – was dazu führte, dass die Anzahl der Cholera- und Typhuserkrankungen um mehr als 60 Prozent zurückgegangen ist. Schwierig ist es, den Bedarf für den laufenden Betrieb zu sichern: Wir brauchen monatlich ca. 30.000 Euro. Etwa 12.000 Euro sind durch regelmäßige Spenden gedeckt, die Rücklage reicht nur für acht Monate. Deshalb bin ich viel unterwegs, um zu informieren und um Unterstützung für unser Projekt zu bitten.

DKM | Die regelmäßige finanzielle Unterstützung aus Europa ist also die Grundlage Ihrer Arbeit?

MG | Sicher ist das Geld die Grundlage, das muss sein wie die Erde für die Pflanzen. Aber das Entscheidende ist das, was zwischen den Menschen passiert: Was die Menschen dort brauchen, ist immer wieder ein Miteinander – so definiere ich für mich Globalisierung, das heißt, den anderen Erfahrungen und Möglichkeiten weitergeben. Und das ist für mich ein gegenseitiger Prozess, von dem ich schon unendlich profitiert habe und der sicher auch schon viele Menschen in Europa angesteckt hat. Ich denke dabei an die Menschen, die eine Patenschaft übernommen haben und auch an die vielen kleinen Einzelspender, die sagen: Ich teile und gebe etwas ab – zum Beispiel an die liebenswerten alten Damen, die darauf verzichten, mit ihrer Freundin ins Café zu gehen und uns mit Daueraufträgen unterstützen, an die Kirchengemeinden und viele mehr.

DKM | Eigentlich ist es immer wieder erstaunlich, was aus einem kleinen Ursprungsimpuls, wie beispielsweise dem Ihren, werden kann.

MG | Ja, das ist das Ermutigende, dass man nicht sagen muss: Ich alleine kann doch nichts machen. Aus dem ersten Schritt, auch der gefühlsmäßigen Betroffenheit, folgen weitere. Dieser Schock durch die Zustände gehört zu meinem Weg, aber auch das Erwachen aus diesem Schock und das Überlegen und Suchen danach, was ich tun kann. Das zeichnet uns Menschen doch aus – dass wir vorausschauend denken können, das heißt die Situation analysieren und daraufhin planen und Wege suchen. Man kann sagen, dass es mich im Prinzip eigentlich nichts angeht – aber es ist meine Sache, ob ich das, was ich sehe, die Not, verdränge oder mich dem Problem zuwende und mit den mir zur Verfügung stehenden Mitteln für eine Verbesserung einsetze.