ZEIT MAGAZIN, 12. OKTOBER 2010

WENN LESEN LEBEN RETTET

Vor 20 Jahren berichteten wir über eine Leprastation in Nepal, danach spendeten viele Leser. Unser Fotograf war jetzt noch mal dort

Von Wolfgang Lechner

Deutschland hatte andere Sorgen in jenem Herbst 1990, andere Themen, andere Bilder: die ehemalige innerdeutsche Grenze, über die gerade das erste Gras wuchs. Die ehemalige DDR, die jetzt »die fünf neuen Bundesländer« hieß. Die ehemaligen »Schwestern und Brüder von drüben«, die plötzlich vor der Tür standen, von Bespitzelung und Repression erzählten und endlich auch so frei und bequem leben wollten wie Menschen im Westen. Deutschland lebte im Hier und Jetzt wie nie zuvor, kreiste um sich selbst und interessierte sich höchstens noch für seine eigene Geschichte der letzten 40 Jahre.

Und dann lagen plötzlich diese Fotos auf dem Leuchttisch. (Ja, liebe junge Leser, damals gab es noch Diapositive. Man konnte sie anfassen, musste achtgeben, dass man sie nicht zerkratzte, und konnte sie auf dem Leuchttisch, einer von unten beleuchteten Milchglasscheibe, hin und her schieben und sortieren.) Es waren Fotos wie aus einer längst überwunden geglaubten Zeit. Bilder von Aussätzigen, denen Nasen fehlten, Finger und Beine. Und doch Bilder aus der unmittelbaren Gegenwart. Aus einem Jetzt, das nichts mit dem Hier zu tun hatte. Gott sei Dank!

Nepal, wo der Fotograf Walter Mayr die Bilder kurz zuvor aufgenommen hatte, war weit genug weg. Irgendwo am Himalaya. Es wäre einfach gewesen, diese Bilder nicht im ZEITmagazin zu drucken.

Und doch schafften sie es ins Heft Nummer 50 vom 7. Dezember 1990, und Leben mit Lepra wurde sogar zur Titelgeschichte jener Ausgabe. Es hatte sich herausgestellt, dass die Leprakranken von Nepal gar nicht so wenig mit unserer Wirklichkeit in Deutschland zu tun hatten. Es gab nämlich noch eine Geschichte, die sich hinter den Fotos von Walter Mayr verbarg: die Geschichte von Marianne Großpietsch aus Dortmund, einer Frau, die den Halbsatz »Man müsste mal...« nicht zu kennen scheint. Die einfach tut.

Als sie 30 war und schon zwei eigene Kinder hatte, adoptierte sie einen achtjährigen Jungen aus einem Lepraghetto in Kathmandu. Als sie 42 war, reiste sie mit ihrem Adoptivsohn nach Nepal, um ihm seine Heimat zu zeigen. Sie sah, dass die Lage der Leprakranken dort verzweifelter war als je zuvor, dass es kaum Hilfe gab für sie, sondern nur Ausgrenzung, Siechtum und Bettelei. Marianne Großpietsch kam zurück nach Dortmund, tat sich mit einem Lehrer ihrer Kinder zusammen, der gab seine Stelle in Deutschland auf, und zusammen gründeten sie die Hilfsorganisation »Nepra e. V.«. Sie eröffneten einen Laden in Dortmund, verkauften Kunsthandwerk aus Asien und gebrauchte Kinderkleidung, und mit dem Erlös daraus, zusätzlichen Spenden und Koffern voller geschnorrter Medikamente flogen sie vier-, fünfmal im Jahr nach Kathmandu, um die Leprakranken zu betreuen. Und als die vom Pashupati-Tempel vertrieben werden sollten, wo sie Touristen und Pilgern ihre Bettelschalen entgegenhielten, mieteten Marianne Großpietsch und ihr Partner eine verfallene Schule und eröffneten Sewa Kendra, den »Ort, an dem dir geholfen wird«. Einen Unterschlupf wenigstens für ein paar Dutzend Bettler, die dort medizinisch betreut wurden, lesen und schreiben lernten und je nach ihren Fähigkeiten handwerklich arbeiten konnten – und das Gefühl bekamen, dass jemand sie brauchte, dass sie ihren Lebensunterhalt selbst verdienten.

Das alles erzählte mir Marianne Großpietsch damals in der kleinen Küche hinter ihrem Dortmunder Laden. Für eine Dienstreise nach Kathmandu fehlten Zeit und Spesenetat. Aber Marianne Großpietsch kann wunderbar anschaulich erzählen, stundenlang ohne Punkt und Komma. Und ich konnte nach dem Besuch ihre Arbeit beschreiben, als hätte ich selbst mit ihren »Kindern« in Nepal gesprochen. So nennt sie ihre Schützlinge – auch wenn sie zehn Jahre älter sind als sie.

Drei magere, klein gedruckte Zeilen zu Nepra e. V. konnte ich unter meinen Bericht im ZEITmagazin schmuggeln: Name, Anschrift, Kontonummer, Bankleitzahl. Keine Empfehlung, kein Spendenaufruf – mit so etwas hielt man sich bei der ZEIT schon immer sehr zurück. Die Leser verstanden auch so: Binnen weniger Wochen gingen 190000 Mark auf dem Nepra-Konto ein. Genug, um etwas außerhalb von Kathmandu eine neue »Klinik« zu errichten: einen einfachen Flachbau, in dem noch mehr Leprakranke medizinisch versorgt werden konnten.

1992 dann passierte das, was private Hilfsinitiativen wie Nepra so riskant macht: Marianne Großpietsch überwarf sich mit ihrem bisherigen Mitstreiter. Und aus den persönlichen Problemen der beiden wäre eine Tragödie für ihre Klienten und Patienten geworden – wenn Marianne Großpietsch eine Frau gewesen wäre, die so einfach aufgeben würde. Sie gründete eine neue Organisation, die Shanti Leprahilfe. Die ist heute das größte private Sozialhilfeprojekt in Nepal, es betreut etwa 1500 Menschen, in einer Klinik, einem Hospiz, einem Waisenhaus, einem Kindergarten, einer Waldorfschule, in Behindertenwerkstätten, auf einem Ökobauernhof und mit einer Armenküche, bildet aus, gibt Arbeit. Und es geht nur noch zu einem Teil um Leprakranke. Bei Shanti finden alle Zuflucht, denen in Nepal sonst keiner hilft, weil man Unglück und Krankheit für die gerechte Strafe der Götter hält: Menschen, die durch Verbrennungen entstellt sind, verstümmelte Bürgerkriegsopfer, Kinder mit unheilbarem Muskelschwund.

Marianne Großpietschs Mann Herbert kümmert sich in dem Dortmunder Geschäft, das es noch immer gibt, um Verwaltung und Buchhaltung, ihre Tochter Dori ist die Geschäftsführerin des Ladens, ihr 38-jähriger Sohn Heiko arbeitet mit ihr an Ort und Stelle in Nepal.

Marianne Großpietsch selbst, inzwischen 66, bleibt der starke Wille hinter Shanti. Sie antichambriert im Entwicklungshilfeministerium und bei der deutschen Botschaft, sie ruft Journalisten an und sagt: »Schreiben Sie mal...«, sie hat ihr Projekt gut durch die blutigen Bürgerkriegsjahre bis 2006 gebracht und es irgendwie geschafft, dass Hape Kerkeling ihr die 500.000 Euro, die er 2002 bei Wer wird Millionär? gewonnen hatte, für einen Krankenhaus-Neubau überließ.

Auch Walter Mayr, unseren Fotografen, rief sie immer wieder an. Vor wenigen Monaten war er wieder in Nepal und hat die Arbeit von Shanti neu dokumentiert.

Marianne Großpietsch ist die Frau, die nervt. Mit immer neuen Ideen, ihrer protestantischen Fröhlichkeit, der mangelnden Scheu, sich Feinde zu machen, wenn es zum Wohl ihrer »Kinder« ist. Und weil sie uns immer wieder vor Augen hält, dass der Halbsatz »Man müsste mal...« die Welt nicht voranbringt.