WELT AM SONNTAG, 21. JANUAR 2007

NEUES ZUHAUSE FÜR OPFER DER LEPRA

von Rolf H. Latussek

Eine deutsche Frau hilft Ausgestoßenen in Nepal. Beispielhaft zeigt das Projekt, wie medizinische und soziale Unterstützung im Kampf gegen die Lepra gemeinsam zum Erfolg führen können.

In der nepalesischen Hauptstadt Kathmandu und an zwei weiteren Standorten in der Nähe hat Marianne Grosspietsch Leprastationen aufgebaut, die erkrankten Menschen wieder eine Lebensperspektive geben. Neben der medizinischen Betreuung ermöglichen Schulen, Behindertenwerkstätten und ökologischer Landbau den Menschen Weiterbildung, Arbeit und Einkommen.

Nach der medizinischen Versorgung können die Patienten meist nicht in ihre Heimatdörfer zurück. »Traurige Erfahrungen haben gezeigt, dass eine Rückkehr Wunschdenken ist«, sagt Marianne Grosspietsch. »Die Verstümmelungen durch die Lepra bleiben ja, und die Kranken werden nicht wieder aufgenommen in die Gesellschaft der Gesunden. Sie werden fortgeschickt - häufig mit Gewalt vertrieben. Dann trauen sie sich oft nicht zurück in unsere Station, weil sie auf dem Weg zu uns diskriminiert werden. Ihre Situation wird oft schlimmer als zuvor.« So blieben viele da, und die Leprastationen wuchsen zu eigenen Dörfern heran.

Begonnen hatte alles vor 30 Jahren. Damals lernte Marianne Grosspietsch in Kathmandu die katastrophalen Verhältnisse in einem nepalesischen Lepragetto kennen. 1992 gründete sie die Shanti Leprahilfe Dortmund e. V., und als erste Station entstand in Kathmandu das Shanti Sewa Griha (Friedens-Dienst-Station). Schnell wurde klar, dass medizinische Betreuung allein den Menschen nicht wirklich helfen kann. Den Kranken musste eine neue Lebensgrundlage geschaffen werden, und darin unterscheidet sich Shanti von anderen Lepraprojekten. Für inzwischen 1600 Männer, Frauen und Kinder ist Shanti zur Heimat geworden. Nicht alle haben Lepra, auch Menschen mit anderen Behinderungen werden aufgenommen. Speziell Kinder sind oft gesund, aber ihre Eltern sind Opfer der Lepra.

Jeder bekommt eine Chance. Das beginnt in Krabbelstuben und geht über Kindergärten bis zu einer eigenen Schule, in der Grundkenntnisse in Rechnen, Schreiben und anderen, auch bei uns üblichen Fächern vermittelt werden. »Anschließend bieten wir den handwerklich begabten Jugendlichen eine Beschäftigung in unseren Werkstätten, und wir schicken die intellektuell fähigsten zur Weiterbildung, die dann sogar Ärzte und Apotheker werden«, sagt Marianne Grosspietsch.

Schneidereien, eine Silberschmiede und eine Puppenmanufaktur stellen Produkte her, die im Weltladen Ganesh in Dortmund verkauft werden. »Dass wir Seidenschals, die nach einer alten nepalesischen Technik gewebt werden, in einem Hotel in Kathmandu selbst verkaufen, ist eher die Ausnahme«, sagt Frau Grosspietsch. »Wichtig ist uns, dass die Menschen selbst ihren Lebensunterhalt verdienen. Dadurch werden sie in den Läden der Stadt normalen Kunden, deren Kaufkraft ein Geschäftmann nicht ignorieren kann. So schaffen wir ein Stück Integration.«

Viel Wert legt die Gründerin auf den Erhalt einheimischer Traditionen gelegt, dennoch wird modern gewirtschaftet. Abwässer und biologische Abfälle werden in einer Fermentationsanlage vergoren. Das dabei gewonnene Biogas dient in der Großküche zum Kochen, und die nach der Fermentation verbleibenden Reste sind Naturdünger für die Felder. Solarkocher, die das Sonnenlicht nutzen tragen ebenfalls zum Energiesparen bei.
In den Gärtnereien ist Selbstversorgung das Thema, und ökologische Gesichtspunkte bestimmen den Landbau. Auf den Feldern wachsen Kartoffeln und europäisches Gemüse. Obstbäume liefern Papayas, Mangos, Orangen und Pfirsiche. Was über den Eigenbedarf hinausgeht, wird auf dem heimischen Markt verkauft.

Betreuer unterweisen Frauen mit unterernährten Kindern, wie ausgewogene Ernährung aussieht. »Wir zeigen den Müttern, wie sie selbst in einem Blumentopf Tomaten züchten und auf dem kleinsten Zipfelchen Land Gemüse für ihre Kleinen ziehen können«, sagt Marianne Grosspietsch. »Überhaupt sind Frauen eine uns besonders wichtige Zielgruppe. Sie sind für die Kindererziehung zuständig und damit diejenigen, die Traditionen weitergeben. Leider sind Frauen auch in Nepal wie in vielen Teilen der Welt unterprivilegiert.«

Weitsicht und Flexibilität, auf die individuellen Fähigkeiten des Einzelnen einzugehen und sie zu fördern, das sind die Grundlagen für den Erfolg der Shanti-Leprahilfe. Im Sommer wird die Organisation 15 Jahre alt, und einige der ersten Kinder aus den Anfängen sind inzwischen erwachsen. »Ein Junge von damals studiert jetzt Medizin, ein zweiter wird Hotelmanager in Shanghai«, sagt Frau Grosspietsch. »Beide wollen nach der Ausbildung zurückkommen und beim weiteren Aufbau helfen.«